Präsident Stefan Gieltowski im Interview

Foto: HStT

Städtetag
31 Okt
Montag, 31. Oktober 2011
Seit November 2005 war der Rüsselsheimer Oberbürgermeister Stefan Gieltowski Präsident oder Erster Vizepräsident des Hessischen Städtetages. Sandra Schweitzer und Michael Hofmeister von der Geschäftsstelle des Hessischen Städtetages haben ihn kurz vor Ende seiner Amtszeit im Haus der kommunalen Selbstverwaltung in Wiesbaden für die „Informationen Hessischer Städtetag“ interviewt.

Seit 2005 sind Sie im Spitzengremium des Hessischen Städtetages in vorderster Front aktiv. War es richtig, sich für dieses Amt zur Verfügung zu stellen? Was war das wichtigste oder bedeutendste Ereignis in Ihrer Zeit als Präsident?

Wegbrechende Steuereinnahmen in den städtischen Kassen und eine an der Aufgabenzuweisung gemessene unzureichende Finanzausstattung der Kommunen bildeten den roten Faden durch die gesamte Präsidentschaft. Damit war auch eine gewisse konfrontative Ausgangssituation zwischen dem Städtetag als dem Interessenvertreter der Kommunen in Hessen und der Landesregierung gelegt, die nach der Verfassung für eine ausreichende Finanzausstattung zu sorgen hat.

Ich habe es aber stets begrüßt, dass beide Seiten trotz kontroverser Gesprächsgegenstände immer noch in der Lage waren, beispielsweise bei gelegentlichen Hintergrundgesprächen mit zunächst dem früheren Ministerpräsidenten Roland Koch und heute mit Ministerpräsident Bouffier, die Gesprächsfähigkeit zu erhalten und kommunal relevante Sachverhalte zu behandeln.

Das Land ist für die Bürger da und die Kommunen sind für die Bürger da. War es immer ein harmonisches Zusammenwirken?

Man spricht ja immer von der Verpflichtung des Landes zum kommunalfreundlichen Verhalten. Das könnte eindeutiger und ausgeprägter ausfallen sowohl von der Landesregierung als auch von den Fraktionen im hessischen Landtag. Nehmen wir zum Beispiel die Kürzungen des Landes im Ausbildungsbudget für unqualifizierte oder unmotivierte junge Menschen. Erst werden vollmundig 17 Mio. Euro versprochen, die Städte und Gemeinden investieren in gleicher Höhe, und dann wird plötzlich das Budget aus heiterem Himmel um sieben Mio. Euro gekürzt. Das verstehen wir nicht unter partnerschaftlichem Umgang.

Worin liegen Vor- und Nachteile eines Zusammenwirkens aller drei kommunalen Spitzenverbände? Müssten gemeinschaftliche Aktionen nicht noch weiter ausgebaut werden?

Die Stärke der kommunalen Spitzenverbände liegt im gemeinsamen Zusammenwirken und im gemeinsamen Vorgehen. Wir sollten daher künftig die Gespräche noch stärker auch für eine gemeinsame strategische Ausrichtung nutzen.

Andererseits müssen bestehende Interessengegensätze zwischen dem städtischen und dem ländlichen Raum aber auch klar benannt werden und können gegenüber Landesregierung und Landtag nicht künstlich kaschiert werden. Den Satz von der „kommunalen Familie“, der gelegentlich zitiert wird, halte ich eher für verklärend.

Wir dachten zum Beispiel an den Herbst 2010. Da hat man auf einer gemeinsamen Protestveranstaltung Landtag und Landesregierung auf die Finanznot der Kommunen medienwirksam aufmerksam gemacht. Brauchen wir mehr solcher Straßenkämpfe?

Solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen müssen gezielt eingesetzt werden, um einer bestimmten Forderung auch einmal Nachdruck zu verleihen oder um auf gravierende Missstände hinzuweisen. Ich denke, das ist uns zusammen mit vielen Bürgermeistern und Oberbürgermeistern im Herbst 2010 trotz klirrender Kälte auch gut gelungen. Es passiert ja nicht allzu häufig, dass Stadtoberhäupter auf die Straße gehen. Gerade diese Tatsache hat allerdings die Bedeutung der Veranstaltung auch in der Medienberichterstattung und in der Schärfung des Bewusstseins für die angespannte finanzielle Lage der hessischen Städte gesteigert.

Dabei sollten wir nie vergessen, dass die Städte keine selbst ernannten Lobbyisten sind, sondern die dritte Ebene im Staatsaufbau darstellen. Wir müssen nicht an der Landtagstür rütteln um eingelassen zu werden. Wir sind schon mit der hessischen Verfassung unterm Arm drin. Aber wir müssen auch hin und wieder Diskussionsprozesse für die Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit sichtbar machen.

Das Land Hessen wurde vom Hessischen Städtetag im Auftrag von 39 Städten vor dem Staatsgerichtshof des Landes verklagt und im Frühjahr haben Sie sich mit dem Finanzminister im Rundfunk duelliert. Ist das Geld immer das wichtigste Thema für die Kommunen? Kann eine Stadt heute nur noch von Radikalsanierern geführt werden?  

Jede Stadt muss zunächst eigenverantwortlich entscheiden, ob und wo sie möglicherweise Budgets kürzen muss. Eine „Radikalsanierung“ würde aber Gefahren für die Entwicklung der Städte und der Menschen, die in den Städten zuhause sind, nach sich ziehen. Werden freiwillige kulturelle oder soziale Leistungen gestoppt oder nachhaltig gekürzt oder Investitionen verschoben, verringert sich automatisch die Attraktivität einer Stadt als Lebens- und als Wirtschaftsstandort – und das in einer Zeit, in der die Kommunen zunehmend in einem Wettbewerb untereinander stehen, wenn es um Unternehmensansiedlungen oder um die Stabilität von Einwohnerzahlen geht. Um die Bürger und Unternehmen in den Städten zu halten und Investitionsstaus zu verhindern, können deshalb Kürzungen nur ein Teil einer Antwort sein; eine aufgabengerechte Finanzausstattung, für die Bund und Land gerade zu stehen haben, ist der zweite Teil einer nachhaltigen Antwort.  

Ihre Stadt Rüsselsheim ist eine so genannte Sonderstatusstadt. Können Sie zufrieden sein mit dem Metropolgesetz Frankfurt-Rhein-Main und den ersten Vorschlägen zu einer Strukturreform des Finanzausgleichs? Sorgen Sie sich um den Sonderstatus?  

Nicht allein Rüsselsheim, sondern auch Hanau, Fulda, Bad Homburg vor der Höhe, Wetzlar, Marburg und Gießen befürchten, dass mit der angekündigten Strukturreform im hessischen Finanzausgleich zu Lasten der Sonderstatusstädte etwas vollendet werden soll, was sich im Kleinen in anderen Gesetzen bereits angedeutet hat: ein Zurückdrängen der Städte über 50.000 Einwohner in Hessen.

Bei der Neustrukturierung des Regionalverbandes im Rhein-Main-Gebiet müssen wir bis heute dafür kämpfen, dass die Sonderstatusstädte in ihrer Rolle als Wirtschaftsstandort, als einwohnerstarke Kommunen, wenn es um die Besetzung des Regionalvorstandes geht, in einem ausreichenden Maß beachtet werden und nicht an den Katzentisch abgeschoben werden.

Für alle Sonderstatusstädte kommt doch aufgrund ihrer Einwohnerzahl und ihrer regionalen Zentralität eigentlich der Status einer kreisfreien Stadt in Betracht. Vor über drei Jahrzehnten haben sie teilweise auf diesen Status verzichtet. Dabei strahlen sie mit ihrer Rolle und mit ihrer Funktion weit über ihre eigenen Stadtgrenzen hinaus ins Umland. Das gilt sowohl für die gesetzlich zugewiesenen Aufgaben: die Schulträgerschaft, die Jugendhilfe oder den Stadtbusverkehr über die Stadtgrenzen hinaus. Oder für freiwillige kulturelle Aufgaben wie Theater und Konzerte oder die medizinische Versorgung in den meist stadteigenen Krankenhäusern. Es gilt aber auch für die zentrale Funktion bei Einkaufsmöglichkeiten oder für die Angebote der selbstständigen Berufe wie Rechtsanwälte, Steuerberater oder Architekten. Das sind Dienstleistungen, die typischerweise in den Sonderstatusstädten gebündelt zu finden sind und die zentrale Funktionalität der Sonderstatusstädte für ihre nähere und weitere Umgebung unterstreichen.

Das Land ist womöglich bis heute der Auffassung, dass die Sonderstatusstädte in die jeweilige Kreisstruktur wieder zurückgedrängt werden sollen, damit keine „Restkreise“ zurückgelassen werden. Wenn das Land aber den sieben Sonderstatusstädten schon einen Beitrag zur regionalen Solidarität abfordert, dann bitte nur um den Preis einer ihrer Bedeutung entsprechenden Sonderstellung mit finanzieller Berücksichtigung im kommunalen Finanzausgleich und nicht mit dem scharfen Schnitt im Finanzausgleich zu Lasten der Sonderstatusstädte.  

Die Stadt Rüsselsheim ist für die Bildung junger Menschen umfassend zuständig, weil sie sowohl Trägerin von Schulen wie von Kitas und Horten und außerschulischer Bildungsträger (VHS) ist. Ist die Bildung junger Menschen bei den Städten gut aufgehoben?

Keine Frage: Ja.
Weder Bund noch Land noch Landkreise sind in der Lage, im Bereich der Bildung das zu leisten, was Städte auf die Beine stellen. Die Städte und Gemeinden schaffen seit Jahrzehnten bedarfsgerechte, qualitativ hervorragende Betreuungsangebote für Kinder über und unter drei Jahren, weil sie wissen, wie wichtig dieses Angebot in vielen Familien für die Vereinbarkeit zwischen Beruf und familiären Angelegenheiten ist und wie wichtig vorschulische Erziehungsbeiträge in den Kitas insbesondere für Kinder sind, die aus bildungsfernen Milieus stammen oder die Familien mit Migrationshintergründen angehören und deshalb gefördert werden müssen.

Was wir dagegen nicht brauchen, sind rechtliche oder politische Vorgaben von Bund und Land, über starre Quoten und reglementierende Finanzzuweisungen. Es muss Sache der Kommunen bleiben, in eigener fachlicher Verantwortung und unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen Verhältnisse entsprechend vor Ort geeignete Instrumente zur Erfüllung des Betreuungsbedarfs vorzuhalten und zeitgemäß weiter zu entwickeln – im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung.  

Derzeit befürchte ich allerdings, dass den vollmundigen Versprechungen von Bund und Land, als sie die U3-Problematik entdeckten, und den Krippengipfel durchführten, nicht die notwendigen Finanzzuweisungen an die Kitaträger folgen werden, die die Städte in die Lage versetzen würden, die Betriebskosten und die investiven Kosten zur Ergänzung des Angebots um U3-Betreuungsplätze zu leisten.

Der Bund hat den Ausstieg aus der Kernenergie verkündet und bereits eingeleitet. Welche Rolle kommt den Kommunen im Zuge der Energiewende zu?  

Die Kommunen und insbesondere ihre Stadtwerke, aber auch beispielsweise kommunale Wohnungsbauunternehmen sind so etwas wie der Motor der Energiewende. Die Städte und Gemeinden engagieren sich bereits seit Langem für den Einsatz erneuerbarer Energien und für eine Steigerung der Energieeffizienz und treiben den Prozess dadurch stetig voran.

Den Städten und Gemeinden kommt bei der Energiepolitik der Zukunft auch deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil auf kommunaler Ebene wesentliche energierelevante Funktionen und Aufgaben zusammenlaufen. Der Prozess des nachhaltigen Umsteuerns in der Energiepolitik und -wirtschaft beginnt vor Ort im Lebensalltag der Bürgerinnen und Bürger.

Der Hessische Städtetag hat gegenüber dem Landtag und der Landesregierung immer wieder betont, dass die Energiepolitik der Zukunft nur in enger Kooperation mit den Städten und ihren Stadtwerken gelingen kann.

Welche Chancen ergeben sich aus der Energiewende für die Kommunen?

Neben dem Vorteil einer wachsenden Wertschöpfung vor Ort und einer zunehmenden Unabhängigkeit ergibt sich für Kommunen, die Energie erzeugen und verteilen, die Möglichkeit ein verändertes Image zu bilden. Gelingt es der Stadt dabei ihre Bürger mitzunehmen, (etwa in dem sie in Planungsverfahren eingebunden werden oder sich an Betreibergesellschaften beteiligen können), entsteht eine stärkere Bindung, eine größere Identifikation mit der eigenen Stadt.   

Wird es bei den erneuerbaren Energien zu einem Wettbewerb zwischen Kommunen und den großen Energieerzeugern kommen?

Ich denke nicht, dass wir einen solchen Wettbewerb erleben werden. Die dezentrale Einspeisung von Energie wird zwar weiter zunehmen. Allerdings fehlt es bislang an einem klaren Bekenntnis des Landes und des Bundes zu einem Vorrang dezentraler Energieerzeugung. Die Pläne gehen dahin, Windenergie in zentralen Offshore-Windparks im Norden zu erzeugen und die Energie von dort in den Süden zu leiten.

Die Kommunen haben immer mehr Aufgaben in der sozialen Absicherung von Menschen zu übernehmen (Kosten der Unterkunft, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Pflege, Integration und anderes). Werden die Kommunen durch die Last wachsender sozialer Verpflichtungen ihre Gestaltungsfreiheit einbüßen?

Das hoffe ich nicht, denn weder Bund noch Land sind so dicht an den Menschen wie die Städte und Gemeinden. Aber wir erleben seit einigen Jahren, dass trotz Förderalismusreform I der Bund direkt mehr und mehr Aufgaben an die Städte und Gemeinden verteilt, starre Vorgaben macht oder mitmischt und die Länder womöglich stillschweigend zusehen.

Vor Ort werden Bedarf und Erwartungen geweckt und wir, die Städte, müssen diesen Wünschen folgen, ohne dass uns das Land dazu einen gesetzlichen konnexitätsrelevanten Auftrag gegeben hätte oder in jedem Fall ein Bedarf vor Ort bestanden hätte. Das wird nicht lange gut gehen. Dabei müssen wir nicht von Bund und Land an unsere Aufgaben erinnert werden. Die Menschen vor Ort wissen am besten, welche inhaltlichen Schwerpunkte in der Stadtpolitik und -gesellschaft gesetzt werden sollen.

Seit über einem Jahr beschäftigt sich eine Enquetekommission im Hessischen Landtag mit dem Thema Integration und Migration. Redet unsere Gesellschaft zu viel über Integration und tut zu wenig?

Zentrales Politikfeld in Land und Kommunen ist bereits seit Jahrzehnten die Partizipation der zugewanderten Menschen am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Der Hessische Städtetag hat dazu eine Übersicht über Ziele, Handlungsfelder und Aktionen der Städte und Gemeinden in Hessen herausgebracht.

Und diese Übersicht zeigt, dass die Städte in Hessen seit Jahren erfolgreiche Integrationsarbeit leisten. Die Städte richten seit Jahren Veranstaltungen aus, die die Vernetzung aller Beteiligten zum Ziel haben, verleihen Integrationspreise, veranstalten interkulturelle Wochen, Einbürgerungsfeiern, Empfänge, haben spezielle Ansprechpartner für Migranten wie Informationsbüros, Integrationslotsen, Clearingstellen für Zuwanderer. Neubürger nichtdeutscher Herkunft werden gezielt begrüßt. Die Städte geben regelmäßig Publikationen zum Thema „Integration“ heraus und stärken damit die Kommunikation. Darüber hinaus ist die Landeshauptstadt Wiesbaden bundesweit führend bei der Entwicklung eines „Monitoring-Verfahren als Planungsinstrument kommunaler Integrationsberichterstattung“.

Integration ist und bleibt jedoch eine Querschnittsaufgabe auch für kommende Generationen und ein langfristig angelegter Prozess, der alle Lebensbereiche und alle Politikfelder auch auf der kommunalen Ebene betrifft. Die Enquetekommission Integration und Migration mag es wieder zu Tage gefördert haben: Integration erfordert das Engagement und die gemeinsame Verantwortlichkeit aller Beteiligten am Integrationsgeschehen vor Ort. Das ist sowohl die Aufnahmengesellschaft wie die Menschen, die im städtischem Leben hinzugekommen sind. Das muss man sich ständig bewusst machen.

Vielen Dank für das Gespräch.  

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